Unfall-Brennpunkt Limmatquai: Mit wissenschaftlichem Vorgehen und Design Thinking zu weniger Fahrradstürzen
Das Limmatquai, also die Strecke zwischen Bellevue und Central, gilt als der Zürcher Hotspot für Fahrradunfälle im Zusammenhang mit Tramgleisen. In einem studentischen Projekt wurden Unfallursachen identifiziert und ermittelt, wie diese reduziert werden können. Dies geschah im Rahmen des Moduls Sicherheits- und Verkehrspsychologie und wurde aus einem Mix klassischer Forschungsmethoden und dem Design Thinking-Ansatz erarbeitet.
Auftrag & Ausgangslage
Im Praxisseminar “Sicherheits- und Verkehrspsychologie: Intervention - Prevention - Human-Machine-Interaction” am Studiengang MSc Angewandte Psychologie an der ZHAW wurde für einen städtischen Praxispartner analysiert, warum es entlang dem Limmatquai zu häufigen Fahrradunfällen kommt und welche Massnahmen getroffen werden können, um diese zu verhindern. Der Praxispartner wünschte sich eine innovative Lösung, dessen Prototyp mit einfachen Mitteln getestet werden kann.
Das gewählte Vorgehen für die Durchführung dieses Studiumsprojekt lehnt sich, neben klassischen Forschungsmethoden, am Design Thinking-Ansatz an. Dieser ermöglichte in einem iterativen Prozess, die Problematik durch Befragungen und Beobachtungen genau zu erfassen. Die gesammelten Daten wurden analysiert, um in der gemeinsamen Ideation-Session mögliche Lösungsansätze abzuleiten. Daraus wurde schlussendlich ein testbarer Prototyp entwickelt.
Situation verstehen
In einem ersten Schritt fand eine Literaturrerche statt, um bereits bekannte Faktoren zu identifizieren, die zu Stürzen in Zusammenhang mit Fahrradfahrenden und Tramgleisen führen. drei mögliche Hauptursachen wurden gefunden:
Persönliche Merkmale
(z.B. Alter und Geschlecht)Intrapsychologische Faktoren
(z.B. Überschätzung der eigenen Fähigkeit)Infrastrukturelle Faktoren
(z.B. Signalisierungen oder Beschaffenheit der Strasse).
(Teschke et al., 2016; Hackenfort, 2012)
Mit verschiedenen Beobachtungskriterien wurde am Limmatquai, bei der Tramstation Rathaus, für eine Stunde eine Initialbeobachtung durchgeführt und mit Block und Bleistift dokumentiert. Die Beobachtungskriterien basieren auf den Erkenntnissen aus der konsultierten Literatur.
Die Initialbeobachtung hat per se keine infrastrukturellen Mängel ergeben. Das Design der langen Limmatquai-Strasse, also konkret die Klarheit der Fahrlinien, mögliche Probleme mit Belichtung und Reflektionen, Bodenkennzeichnungen und weitere Signalisierungen scheint einwandfrei zu sein. Dies wurde auch durch den Praxispartner bestätigt. Als einzige infrastrukturelle Mängel könnte das Fehlen eines dedizierten Veloweges und das Füllen der Tramgleise mit Gummi genannt werden. Beide Optionen sind aber sehr kostspielig und können innerhalb des Studentenprojektes nicht weiter verfolgt werden.
Als Standpunkt und weitere Ausgangslage, einigte sich das Projektteam auf die intrapsychologischen Faktoren - auch ganz im Sinne des Studiengangs. Die folgende Forschungsfrage wurde schlussendlich festgelegt:
“Was sind mögliche intrapersonelle Faktoren, die zu einem Unfall zwischen Fahrradfahrenden und Tramschienen am Limmatquai führen?”
Anhand der Studie von Hackenfort (2012) konnten die möglichen intrapersonellen Faktoren definiert werden, woraus sich folgende beiden Hypothesen ergaben:
Die verzerrte Risikowahrnehmung der Fahrradfahrenden durch die Unterschätzung der Unfallwahrscheinlichkeit führen am Limmatquai zu Unfällen mit Tramschienen.
Die verzerrte Risikowahrnehmung der Fahrradfahrenden durch die Überschätzung der Kontrollmöglichkeiten führen zu Unfällen mit Tramschienen.
Datenerhebung
Um der Fragestellung auf den Grund zu gehen und die beiden Hypothesen falsifizieren zu können, wurden am Limmatquai Befragungen durchgeführt. Der Fragebogen beinhaltete Angaben zur Demografie und dem Fahrradgebrauch, 9 Fragen die auf einer 5-stufigen Likert-Skala beantwortet werden, sowie 2 offenen Fragen.
Die Erhebung fand an zwei Terminen statt: am Samstagnachmittag von 14:00 - 16:30 Uhr und Montag 11:00 - 12:00 Uhr. Die Zeitpunkte wurden so gewählt, dass Fahrradfahrende in der Freizeit und solche die beruflich unterwegs sind, befragt werden konnten. Damit keine Unfälle durch die Befragung generiert werden, wurden nur Personen befragt, die bereits von ihrem Fahrrad abgestiegen waren. Gesamt wurden 15 Personen befragt, 7 männliche und 8 weibliche.
Um die Hypothesen zu prüfen, wurden jeweils gepaarte Fragen erhoben - also für Hypothese 1 “Die verzerrte Risikowahrnehmung der Fahrradfahrenden durch die Unterschätzung der Unfallwahrscheinlichkeit führen am Limmatquai zu Unfällen mit Tramschienen.” beispielsweise:
Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass Fahrradfahrende beim Limmatquai ins Tramgleis fahren und es zu einem Unfall kommt?
Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass Sie selbst beim Limmatquai ins Tramgleis fahren und es zu einem Unfall kommt?
Datenauswertung
Der Fragebogen wurde hauptsächlich quantitativ ausgewertet. Anfangs wurde eine Korrelationsmatrix erstellt, in der Korrelationen zwischen allen erhobenen Variablen berechnet wurden. Damit wurden erste Zusammenhänge sichtbar und ebenfalls wurde geprüft, ob es Redunanzen gibt. Also ob beispielsweise zwei Variablen dasselbe messen. Um konkret die Hypothesen zu prüfen, wurden anhand eines t-Tests für verbundene Stichproben die gepaarten Fragen auf Unterschiede getestet. Anhand multiplen Regressionen wurden mögliche Einflussfaktoren berechnet. Also, ob beispielsweise die Anzahl an täglichen Fahrradfahrminuten einen Einfluss auf die Risikoeinschätzung des Limmatquais hat.
Zusammengefasst ergab es folgende signifikanten Resultate:
Fahrradfahrende unterschätzen die eigene Wahrscheinlichkeit, am Limmatquai einen Unfall zu erleiden
Fahrradfahrende überschätzen die eigene Kontrollmöglichkeit, am Limmatquai einen Unfall zu vermeiden
Die Unfallwahrscheinlichkeit, generell einen Fahrradunfall zu erleiden, wird höher eingeschätzt, als konkret beim Limmatquai
Einfach gesagt: Velofahrer:innen überschätzen Ihre eigene Fähigkeiten massiv und finden die Strasse entlang dem Limmatquai zu sicher.
Ideation
Die innerpsychischen Faktoren, warum es zu Fahrradunfällen kommt, konnten durch die Datenauswertung identifiziert werden. Es stellt sich nun die Frage, wie man den Fahrradfahrenden bewusst machen kann, dass das Limmatquai doch nicht ganz so eine sichere Strasse für Fahrradfahrende ist und es hier häufig zu Unfällen kommt. In einer Ideation-Session wurden zuerst verschiedene individuelle Lösungsideen entwickelt.
Alle Lösungsideen verfolgten unabhängig voneinander den Ansatz des Boosts. Boosts fördern mittels Wissensvermittlung die Kompetenz und führen dazu, dass Menschen bessere Entscheidungen treffen (Hertwig & Grüne Yanoff , 2017). So soll der Boost die Information enthalten, dass der Limmatquai der grösste Unfallschwerpunkt für Fahrradfahrer:innen mit Tramgleisen in der Stadt Zürich ist. Eine Idee war es, über eine Smartphone-App die Fahrradfahrenden mit einer Push-Nachricht darauf aufmerksam zu machen, dass Sie gerade eine riskante Strasse überquert haben.
Eine andere Idee, die anschliessend für den Prototyp weiterverfolgt wurde, war die Idee eines digitalen Plakates, die jeweils die aktuellen Unfallszahlen und Beinahe-Unfälle am Limmatquai anzeigt und somit mit Live-Daten die Fahrradfahrende über den Unfall-Brennpunkt aufklärt. Die Unfälle kommen aus der offiziellen Statistik der Stadt Zürich, und die Beinahe-Unfälle können durch die Fahrradfahrende über einen QR-Code gemeldet werden. Der QR-Code ist ebenfalls auf dem digitalen Plakat platziert und nach dem Scan steigt die Anzahl der Beinahe-Unfälle entsprechend.
Die Sicherstellung, dass niemand aus Spass die Zahl in die Höhe treibt, wurde im Rahmen der Arbeit nicht weiter verfolgt. Das wäre in einem nächsten Schritt sicherlich angebracht.
Prototyp & Testing
Im Anschluss an die Ideation Session, wurde zuerst ein einfaches Wireframe entwickelt, um ganz konkret zu sehen, welche Informationen das digitale Plakat anzeigt und wie diese Informationen angeordnet sind. Anschliessend wurde der folgende visuelle Prototyp erstellt:
Für ein Testing hat die Zeit leider nicht gereicht. Jedoch könnte an dieser Stelle die Verständlichkeit des Plakats mit Fahrradfahrenden getestet werden. Entweder mit rekrutierten Personen im Labor oder direkt im Feld mit einem ausgedruckten und am Limmatquai platzieren Plakat. Insbesondere die Lesbarkeit und die Länge des Texts müsste einer Prüfung unterzogen werden.
Und zum Schluss: Solltest du bald mal wieder dem Limmatquai entlang fahren, hoffen wir, dass du dich an diesen Blogeintrag erinnerst und die Strasse nicht unterschätzt. Wir wünschen dir eine sichere Velofahrt! :-)
Quellen
Hackenfort, M. (2012). Jenseits des Vorsatzes: Eine Untersuchung zu kognitiven Ursachen von regelwidrigem Verhalten im Radverkehr. In C. Schwarzenegger & R. Nägeli (Hrsg.), Fünftes Zürcher Präventionsforum. Raser, Risikofahrer und andere Verkehrsteilnehmer (S. 171 238). Zürich: Schulthess.
Teschke, K. et al. (2016). Bicycling crashes on streetcar (tram) or train tracks: mixed methods to identify prevention measures. BMC Public Health 16, 617. https://doi.org/10.1186/s12889-016-3242-3
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Juan Hofer, Experience Consultant & Student MSc Angewandte Psychologie
Publiziert am 28.06.2023